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Nr. 165/166 DDR postkolonial


Inhalt:

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Heft, S. 3

Maria Backhouse, Theo Mutter & Miriam Friz Trzeciak:
Mosambikanische Vertragsarbeiter*innen in der DDR. Interview mit Madgermanes in Maputo. Mit einer Einführung von Hans-Joachim Döring, S. 11

Johanna M. Wetzel & Marcia C. Schenck:
Liebe in Zeiten der Vertragsarbeit. Rassismus, Wissen und binationale Beziehungen in der DDR und Ostdeutschland, S. 31

Isabel Enzenbach:
Black East & Ossis of Color. Fotografien afrikanischer Migrant:innen in der DDR, S. 56 Miriam Friz Trzeciak & Manuel Peters:
Urbane imperiale Differenz Verflechtungen postkolonialer und post(real) sozialistischer Konfigurationen am Beispiel von Cottbus, S. 82

Jannik Noeske:
Mit Tropenhelm in Thüringen. Rezeption und Repräsentation Albert Schweitzers in Weimar seit 1960, S. 107

Raja-Léon Hamann & Jan Daniel Schubert:
Zwischen anti-imperialistischem Anspruch und politischer Wirklichkeit. Die Reproduktion kolonialrassistischer Strukturen in dem Amo-Forschungsprojekt der 1960er Jahre und der Statue "Freies Afrika" in Halle a.d. Saale, S. 129

Samuel Quive & Adérito Machava:
Eine zerbrochene Vision? Wie Samora Machels Projekt für eine Elitebildung in der DDR entgleiste, S. 154
Martina Kofer:

(Interkulturelle) Begegnungen mit der DDR-Gesellschaft in chilenischer Exilliteratur. Versuch einer postkolonialen Lesart, S. 175
Bianca Bodau:
Bruderland ist abgebrannt. Ein Dokumentarfilm von Angelika Nguyen (Zur Einführung), S. 199

Angelika Nguyen:
Film als Weg aus Familienproblemen. Interview mit dem Filmregisseur Duc Ngo Ngoc über einen Filmworkshop mit Kids aus der deutsch-vietnamesischen Community, S. 202

PERIPHERIE-Stichwort
Reinhart Kößler & Miriam Friz Trzeciak: Postsozialismus?, S. 209
Patrice G. Poutrus: Arbeitskräfte für den Sozialismus: Die Vertragsarbeiter*innen, S. 214

REZENSIONEN, S. 217
Birgit Neumann-Becker & Hans-Joachim Döring (Hg.): Für Respekt und Anerkennung. Die mosambikanischen Vertragsarbeiter und das schwierige Erbe der DDR (Theo Mutter)
Eric Burton, Anne Dietrich, Immanuel R. Harisch & Marcia C. Schenck (Hg.): Navigating Socialist Encounters. Moorings and (Dis)Entanglements Between Africa and East Germany during the Cold War (Reinhart Kößler)
Hans-Georg Schleicher: Doppelte Zeitenwende. Der Süden Afrikas und Deutschlands Osten (Reinhart Kößler) Arno Sonderegger: Afrika und die Welt. Betrachtungen zur Globalgeschichte Afrikas in der Neuzeit (Gerhard Hauck)
Franz Halbartschlager, Andreas Obenaus & Philipp A. Sutner (Hg.): Seehandelsrouten. Wegbereiter der frühen Globalisierung (Reinhart Kößler)
Heiko Wegmann: Vom Kolonialkrieg in Deutsch-Ostafrika zur Kolonialbewegung in Freiburg. Der Offizier und badische Veteranenführer Max Knecht (1874-1954) (Fabian Fechner)
Michaela Fink & Reimer Groenemeyer: Namibia's Children. Living Conditions and Life Chances in a Society in Crisis (Reinhart Kößler)
Annett Bochmann: Public Camp Orders and the Power of Microstructures in the Thai-Burmese Borderland (Tobias Breuckmann)
Victor Bravo & Nicolas Di Sbroiavacca: Oil and Natural Gas Economy in Argentina. The Case of Fracking (Sören Scholvin)
Karl Reitter: Kritik der linken Kritik am Grundeinkommen (Reinhart Kößler)

Eingegangene Bücher, S. 242
Summaries, S. 243
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 246




Zu diesem Heft

Über 30 Jahre nach dem Mauerfall scheinen die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland immer noch eklatant. Auch wenn sich die Lebensverhältnisse langsam angleichen, so sind Probleme der sozio-ökonomischen Marginalisierung in Ostdeutschland weiterhin verstärkt anzutreffen. Auch Rassismus, Migrationsfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt sowie die Unterstützung völkisch-autoritärer Gruppen und Parteien scheinen auf dem Gebiet der einstigen DDR virulenter zu sein. Zwar blieben die Pogrome und Brandmorde Anfang der 1990er Jahre nicht auf Ostdeutschland beschränkt und das Netzwerk der sich 2011 selbst enttarnenden NSU-Gruppe erstreckte sich offensichtlich bis weit in den Westen und dessen Verfassungsschutzorgane hinein. Dennoch haben diese Ereignisse immer wieder für eine Debatte über das Anwachsen des und den Umgang mit dem Rassismus in der DDR sowie nach dem Umbruch 1989/90 gesorgt.
Wie post- und dekoloniale Forschungen zeigen, verweisen rassistische Praktiken auf die Persistenz und Reaktualisierung kolonialer Machtverhältnisse. Es zeigt sich, dass sich kolonialrassistische Bilder und Ideen nicht nur in westliche, sondern auch in staatssozialistische Ordnungen eingeschrieben haben. Die Kolonialität dieser Ordnungen hat für die Herausbildung verschiedener Prozesse der Klassifizierung gesorgt, die Menschen in soziale Gruppen einteilen, sie hierarchisch in Beziehung zueinander setzen, mit ungleichen Rechten ausstatten und den Zugang zu Ressourcen regeln. Sie haben verschiedene Prozesse des Fremdmachens in Gang gesetzt, die jeweils unterschiedliche Positionalitäten und Konstellationen hervorgebracht und die Verhältnisse der postkolonialen, postfaschistischen und postsozialistischen Gesellschaft nachhaltig beeinflusst haben.
Zwar waren beide Teile Deutschlands postkoloniale und postfaschistische Gesellschaften und daher -- wenn auch auf unterschiedliche Weise -- in ein System der Kolonialität und sie bedingender Modernität verstrickt. Entsprechend der beherrschenden staatssozialistischen bzw. kapitalistischen Logik fiel jedoch die Positionierung zu ihrer kolonialen und faschistischen Vergangenheit höchst unterschiedlich aus. Auch wenn Rassismus in der DDR offiziell geleugnet wurde (und damit nicht thematisiert werden konnte), so prägten doch koloniale und rassistische Denkmuster und Bilder die Politiken des staatlichen Antiimperialismus und Antifaschismus. Die DDR imaginierte sich als homogene und weiße sozialistische Gesellschaft. Es wurde unterstellt, sie sei im Vergleich zu den sozialistischen Staaten des Globalen Südens höher entwickelt. Die Abkommen über Arbeitsmigration mit postkolonialen Staaten wie Vietnam, Mosambik oder Angola nutzten vor allem der DDR, und die Doktrin der "Völkerfreundschaft" unterstellte die zivilisatorische Überlegenheit der DDR. Diese Grundhaltung fand auch Ausdruck in der Politik gegenüber nationalen Befreiungsbewegungen wie dem ANC in Südafrika, politischen Exilant*innen aus Spanien, Griechenland, Algerien, Chile oder dem Iran sowie weiteren nationalen Befreiungsbewegungen in Ländern wie Mosambik, Angola, Namibia oder Simbabwe oder auch gegenüber den Sandinist*innen in Nikaragua.
Jedoch boten sozialistische Ideen auch transformatorisches Potenzial für die Überwindung kolonialrassistischer und ausbeuterischer Ordnungen. So unterschieden sich sowohl die Aufarbeitung als auch die Kontinuität und das Nachwirken kolonialer Strukturen in der DDR erheblich von der BRD. In Ostdeutschland sind etwa weniger Straßennamen zu finden, die nach kolonialen Protagonisten benannt wurden. DDR-Historiker*innen leisteten Pionierarbeit bei der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus in Afrika, wobei sie insbesondere die Bedeutung antikolonialer Kämpfe beleuchteten. Die DDR-Regierung distanzierte sich semantisch von der als neoimperialistisch wahrgenommenen westlichen "Entwicklungshilfe" und zog Begriffe wie "Antiimperialistische Solidarität" vor. Sie unterstützte Regierungen im Globalen Süden dabei, eine "sozialistische Orientierung" zu verfolgen, also im Rahmen einer Systemkonkurrenz Entwicklungsstrategien, die auf zum Kapitalismus alternativen wirtschaftlichen, ideologischen und politischen Prämissen beruhten. Zu unterschiedlichen Zeiten waren dies etwa Guinea, Tansania, Chile, Benin, Kongo (Brazzaville), Südjemen, Äthiopien oder Kuba -- die Beispiele belegen bereits die tiefe Ambivalenz. Dies gilt auch für die Bedingungen der Arbeitsmigrationsabkommen in stärkerem Maß, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die entsprechenden Abkommen enthielten Bestimmungen über Sozial- und Ausbildungsleistungen. Allerdings wurde der solidarische Anspruch in der Realität nicht eingehalten, etwa wenn Vertragsarbeiter*innen die körperlich schwersten und härtesten Arbeiten verrichten mussten, nach einem Prinzip der "staatlich verordneten Abgrenzung" (Poutrus) untergebracht waren oder schwangere Vertragsarbeiterinnen vor die Wahl zwischen Abtreibung oder Ausreise gestellt wurden. Zugleich war Politik der DDR geprägt vom Bestreben nach internationaler Anerkennung im Kalten Krieg.
Das besondere Verhältnis zu den nationalen Befreiungsbewegungen sowie antikolonialen und antifaschistischen Akteur*innen aus dem Globalen Süden spiegelte sich in unterschiedlichen Konstellationen und Beziehungen wider wie (1) bei Vertragsarbeiter*innen (aus Ländern wie Polen, Ungarn, Kuba, Algerien Angola, Mosambik oder Vietnam), die je nach Abkommen mit den Herkunftsstaaten in der DDR mit unterschiedlichen Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten konfrontiert waren; (2) bei Studierenden (etwa aus Nigeria, der Syrisch-Arabischen Republik, Tansania, Mali oder dem Sudan), deren Ausbildungskosten die DDR trug und die eine Sonderrolle hatten sowie teilweise andere Rechte (wie das Reisen in westliche Länder) als DDR-Bürger*innen besaßen; (3) bei der politischen (z.T. indirekt auch militärischen) Unterstützung der Befreiungsbewegungen, dies nicht zuletzt als Gegenposition zur westlichen Politik im Globalen Süden; und schließlich (4) bei den politischen Exilant*innen, die nicht selten von der DDR-Bevölkerung als privilegiert angesehen wurden, da sie häufig (jedenfalls im Falle der Chilen*innen) materielle Zuwendungen empfingen und aufgrund ihrer ausländischen Staatsbürger*innenschaft Reisefreiheit genossen.
Die teilweise schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der DDR wurden von vielen Akteur*innen jedoch nicht widerspruchlos hingenommen. Rassifizierte und migrantisierte Personengruppen leisteten vielfältige Formen des Widerstandes, beispielsweise wenn sie die ihnen im Herkunftsland versprochenen Garantien aktiv einforderten, Rassismus und weitere Widersprüche der internationalistischen Politik thematisierten oder sich über verschiedene Praktiken des "Eigensinnes" (wie Streik, Bündnisse oder Aktionen mit Kolleg*innen oder Mitbewohner*innen) neue Freiheiten und Möglichkeiten verschafften. Auch in Kontakten mit Protagonist*innen der DDR-Zivilgesellschaft, etwa in den Kontexten der Kirchen-, Friedens- oder Umweltbewegung, aber auch in Freundschafts- und Liebesbeziehungen, entstanden solidarische Räume, die sich teilweise auch kritisch mit Rassismus auseinandersetzten.
Diese Ambivalenzen, aber auch das transformatorische Potenzial der postkolonialen DDR sind bisher noch wenig beleuchtet worden. Noch immer wird "der Osten" als "anders" und unzivilisierter im Vergleich zu "dem Westen" dargestellt, oder westdeutsche Geschichten und Bilder dominieren die Vorstellungen von der DDR. So sind die multiplen Migrationsbewegungen aus und in die DDR (etwa von Vertragsarbeiter*innen oder Exilant*innen) im kollektiven Gedächtnis der BRD vergessen, und in der Migrationsforschung -- auch wenn sich dies langsam ändert -- noch wenig beachtet. Ganz praktisch hat dies Folgen für Migrant*innen aus dieser Zeit, deren Perspektiven im Gros von Literatur und Politik immer noch unterbelichtet sind. Geringe Beachtung finden auch Spuren der Repräsentanz postkolonialer Bezüge im öffentlichen Raum der DDR. Auch da, wo diese nicht abgeräumt wurden, werden sie gerade in ihrer Ambivalenz wenig beachtet.
Das vorliegende Heft soll dazu beitragen und anregen, diese und andere Leerstellen zu füllen. Es ordnet sich in Forschungszusammenhänge ein, die teilweise noch am Anfang stehen. Es geht daher auch um die Erkundung wenig kartierten Terrains sowie dessen Widersprüche und Ambivalenzen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Erfahrungen von Migrant*innen aus dem Globalen Süden. Daneben stehen Ansätze zur Spurensuche in städtischen Räumen und künstlerische Formen der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die Menschen aus dem Globalen Süden in der DDR gemacht haben.
Das Heft beginnt mit der Perspektive dreier ehemaliger Vertragsarbeiter aus Mosambik, mit denen Mitglieder der PERIPHERIE-Redaktion im Mai 2021 ein Interview führten. Darin reflektieren Albino Forquilha, David Mavinguane Macou und Constantino Manoel als Vertreter der Associação que luta pelos direitos dos trabalhadores (Vereinigung, die für Rechte der Arbeiter kämpft) sowie der Associação de Amizade Moçambique-Alemanha (Freundschaftsgesellschaft Mosambik-Deutschland) kritisch ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in der DDR. Sie beschreiben die schwierigen Erfahrungen der Rückkehr nach Mosambik nach der Auflösung der DDR und berichten als Mitglieder verschiedener Madgermanes-Organisationen über ihre aktuellen Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und Anerkennung gegenüber der deutschen und der mosambikanischen Regierung. Der Ausdruck "Madgermanes" hat sich aus "Majermanes" ("die Deutschen") gebildet, mit dem die Remigrierten in Shangaan, der Sprache im südlichen Mosambik, bezeichnet werden. Im Internet wurde daraus zuweilen auf eine Anspielung auf die Phrase "Made in Germany" oder auf "verrückte Deutsche" geschlossen. Die Interviewpartner illustrieren nachdrücklich, wie Rassismus und soziale Ausgrenzung ihr Leben in der DDR prägten. Andererseits betonen sie, dass sie eigensinnige Akteur*innen waren, die sich immer wieder Handlungsspielräume jenseits der durch die Verträge festgelegten Abgrenzungsbedingungen erkämpfen konnten. Einleitend skizziert Hans-Joachim Döring die Bedingungen der Arbeitsmigrationsabkommen zwischen der DDR und Mosambik, die Konstellationen der "bitteren Solidarität" sowie den Kontext der aktuellen Kämpfe. Diese Kämpfe finden in der deutschen Öffentlichkeit bestenfalls geringe Resonanz, wie auch in der wissenschaftlichen Debatte über das Erbe der DDR Migration bisher ein marginales Thema bleibt.
Dem Themenkomplex "Liebe in Zeiten der Vertragsarbeit" widmen sich Marcia Schenck & Johanna Wetzel. Anhand von den oral histories mosambikanischer und angolanischer Vertragsarbeiter*innen, die bis 1990 in der DDR lebten, liebten und arbeiteten, sowie Interviews mit der Kindergeneration beleuchten die Autorinnen, wie rassistische Wissensbestände binationale Beziehungen in der DDR und Ostdeutschland geprägt haben. Indem sie die Wirkungsweisen von Rassismus sowie die widerständigen Umgangsweisen seitens der Akteur*innen vor und nach der Wiedervereinigung aus einer nicht-weißen Perspektive untersuchen, liefern sie wichtige Impulse für die DDR-Rassismusforschung.
Isabel Enzenbach macht sich auf die Suche nach Spuren einer Black history der DDR in zeitgenössischen Presse- und Privatfotografien. Die Bilder, die Migrant*innen verschiedener afrikanischer Länder zeigen, stammen aus dem Archiv der DDR-Bildagentur Zentralbild sowie aus dem im Entstehen begriffenen Archiv De-Zentralbild, das private Fotos von DDR-Migrant*innen und die dazugehörigen Erzählungen zusammenträgt. Im Zentrum der Analyse stehen Bilder, die vom Muster der DDR-spezifischen Pressefotografie abweichen, welche junge Menschen aus dem Globalen Süden in der Ausbildung und bei der Arbeit von freundlichen DDR-Bürgern angeleitet zeigte, um die DDR als technologisch überlegenes Bruderland zu inszenieren. Enzenbach untersucht sie anhand der von DDR-Migrant*innen formulierten Kategorien "Black East" und "Ossis of Color" sowie des Konzepts eines "Socialist Chromatism".
Die ambivalenten Formen, wie sich koloniale Machtverhältnisse in postsozialistische Räume eingeschrieben haben, beleuchten Miriam Friz Trzeciak & Manuel Peters im Rahmen einer postkolonialen Stadtführung durch Cottbus. Am Beispiel verschiedener Erinnerungsorte diskutieren sie, wie die dekolonialen Perspektiven der Kolonialität der Macht auf urbane Räume, die aus der DDR hervorgegangen sind, angewendet werden kann, und machen damit verbundene Prozesse der sozialen Hierarchisierung und Rassialisierung sichtbar. Die spezifischen Verflechtungen postkolonialer und postsozialistischer Konfigurationen im städtischen Raum, die auf die widersprüchliche Aufarbeitung des kolonialen Erbes der DDR hindeuten, fassen sie als urbane imperiale Differenz.
Auf eine besondere Bezugnahme zu (post-)kolonialen Verhältnissen verweist das Verhältnis der DDR zu Albert Schweitzer. Jannik Noeske stellt das Schweitzer-Denkmal in Weimar in den breiten Kontext der unterschiedlichen Rezeption dieser Berühmtheit in Ost und West sowie insbesondere des hier relativ selbstständigen Agierens der Ost-CDU, einschließlich der Besuche Gerald Göttings (1966-1989 Vorsitzender der Partei) in Lambarene. Am Denkmal selbst zeigt sich eine Inszenierung und Formensprache, die deutlich in kolonialen Stereotypen befangen ist, versinnbildlicht im Tropenhelm des weißen "Urwalddoktors" und Vorkämpfers der Friedensbewegung, aber auch in den typisierenden Figuren von Afrikaner*innen.
Zu einem ähnlichen Befund kommen Raja-Léon Hamann & Jan Daniel Schubert in ihrer Untersuchung der frühen Politik der DDR gegenüber Ghana unter Kwame Nkrumah. Sie begreifen die oben dargestellte spezifische Verstrickung der DDR in postkoloniale globale Verhältnisse mit dem Konzept der sozialistischen Kolonialität. Davon ausgehend untersuchen sie erstens ein Anfang der 1960er Jahre begonnenes Forschungsprojekt zum Leben und Werk Anton Wilhelm Amos (1703-1784), des ersten Schwarzen Hochschullehrers in Deutschland, und zweitens das im selben Kontext errichtete Denkmal Freies Afrika in Halle a.d. Saale, das heute auch erinnerungspolitisch diskutiert wird. Ihre Analyse zeigt die ambivalente Position der DDR zwischen anti-imperialistischem Anspruch und Reproduktion kolonialrassistischer Strukturen auf.
Die mosambikanischen Autoren Samuel Quive & Adérito Machava analysieren die geopolitische und strategische Dynamik der Kooperation zwischen der damaligen Volksrepublik Mosambik und der DDR im Bereich Erziehung und Ausbildung im Kontext des Staats- und Freundschaftsvertrags vom Februar 1979. Die als wichtiger Teil dieses Vertrags gegründete Schule der Freundschaft in Staßfurt bei Magdeburg sollte dazu beitragen, die Vision des mosambikanischen Präsidenten Samora Machel und der Frente de Libertação de Moçambique (FRELIMO) von der Etablierung einer marxistisch-leninistischen geprägten sozialistischen Gesellschaft durch die Schaffung eines "Neuen Menschen" zu verwirklichen. Zugleich sollte das Land durch die wirtschaftliche Kooperation seine enormen Staatschulden bei der DDR begleichen und zu deren internationaler Anerkennung beitragen. Mit Machels Tod im Jahr 1986, den politisch-ideologischen Veränderungen aufgrund zahlreicher interner und externer Einflussfaktoren und der Umwandlung der Volksrepublik in eine Republik mit mehreren Parteien verlor das Projekt seine Bedeutung und ist letztendlich gescheitert.
Martina Kofer untersucht "Begegnungen mit der DDR-Gesellschaft in autofiktionalen Texten der chilenischen Exilliteratur". Deren Autor*innen hatten nach dem Militärputsch am 11.9.1973 in Chile Asyl in der DDR gefunden. Die Aufnahme der Flüchtlinge war dabei sowohl außen- als auch innenpolitisch von Bedeutung, da sie die Solidarität der DDR mit den sozialistischen Genoss*innen explizit symbolisieren sollte. Die Literatur thematisiert nicht nur die Exilerfahrungen der Autor*innen, sondern auch interkulturelle Begegnungen mit der DDR-Gesellschaft und die Wahrnehmung der "anderen" Kultur aus der Perspektive der exilierten Figuren. Kofer untersucht die Texte aus einer postkolonialen Perspektive und fragt nach Erfahrungen mit einem weiß-europäischen Überlegenheitsdenken, Prozeduren des otherings oder auch Prozessen der kulturellen Hybridisierung der Figuren während des Exils.
Bianca Bodau stellt den Dokumentarfilm Bruderland ist abgebrannt der Filmwissenschaftlerin und Autorin Angelika Nguyen vor, den diese 1991 über vietnamesische Immigrant*innen in Ostberlin gedreht hat, die als Vertragsarbeiter*innen in die DDR gekommen waren.
Im anschließenden Interview spricht Angelika Nguyen mit dem Filmregisseur Duc Ngo Ngoc über einen Filmworkshop mit Kids aus der deutsch-vietnamesischen Community. Die Deutsch-Vietnames*innen in Berlin gelten als "gut integrierte" Migrationsgruppe. Trotz oder gerade wegen ihres positiven Images bleiben ihre Geschichten sowie Schwierigkeiten und Konflikte in den Familien oft unsichtbar. Die Ostkreuz City gGmbH, ein anerkannter freier Träger der Jugendhilfe, arbeitet im Kontext aufsuchender Hilfe direkt mit den Familien und gemeinsam mit den Betroffenen an Lösungen für einen konstruktiven Umgang mit diesen interkulturellen Generationenkonflikten. In diesem Zusammenhang leitete der Regisseur Duc Ngo Ngoc, als Kind vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen selbst ein Angehöriger der zweiten Generation vietnamesischer Einwanderer*innen, 2020/2021 einen Filmworkshop, der es den Jugendlichen ermöglichen sollte, mit ihren Eltern, die als vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in die DDR kamen, und anderen aus der ersten Generation ins Gespräch zu kommen: über die konkreten Bedingungen von Einwanderung, über Gefühle, Erwartungen, Ängste und Träume. Resultate waren ein Aufbrechen der Sprachlosigkeit -- und zwei Kurzfilme.
Zwei PERIPHERIE-Stichworte runden den thematischen Schwerpunkt der Ausgabe ab. Im ersten beleuchten Reinhart Kößler & Miriam Friz Trzeciak kritisch den Hintergrund des Konzeptes Postsozialismus. Patrice G. Poutrus stellt im zweiten die Vertragsarbeiter*innen als "Arbeitskräfte für den Sozialismus" vor.

Die vorliegende Doppelausgabe eröffnet den 42. Jahrgang mit einem wissenschaftlich bisher nur wenig beleuchteten Thema: die Persistenz kolonialer und rassistischer Strukturen in der damaligen DDR und den ostdeutschen Bundesländern. Auch dieses Mal war es eine Freude, mit Gastredakteur*innen zusammenzuarbeiten. Ein zweites Doppelheft zum Thema "Möglichkeiten und Grenzen der Weltsystemtheorie zum Verständnis globaler Ungleichheiten" bereiten wir für den Herbst/Winter dieses Jahres vor. Weiter geplante Schwerpunkte sollen "Internationalismus"; "Digitalisierung" und "Bildung als Lösung für Probleme des Globalen Südens" in den Blick nehmen. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Die entsprechenden Calls for Papers finden sich auf unserer Homepage, sobald sie veröffentlicht werden.
In eigener Sache danken wir allen Leser*innen, Abonnent*innen sowie den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., der Herausgeberin der PERIPHERIE. Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist weiterhin von Spenden abhängig. Eine für die langfristige Sicherung des Projekts besonders willkommene Förderung stellt die Mitgliedschaft im Verein dar, in der das Abonnement der Zeitschrift sowie regelmäßige Informationen über die Redaktionsarbeit enthalten sind. Wir freuen uns aber auch über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum.