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Nr. 176 Rassismus und Kapitalismus


Inhalt:

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Heft, S. 411

Roger Southall:
Racial Capitalism heute: Überlegungen aus Südafrika, S. 416

Stanislav Serhiienko:
Endre Sík und das Rassenproblem im sowjetischen Diskurs. Zur Geschichte eines frühen „konstruktivistischen“ Rassenbegriffs, S. 439

Kolja Lindner:
Marxismus vor der postkolonialen Herausforderung. Historischer Materialismus und Racial Capitalism, S. 460

Eleonora Roldán Mendívil:
Racial capitalism Geschlecht und „Rasse“ Konzeptionelle Möglichkeiten und Grenzen (Debatte), S. 483

Monique Ritter:
Intersektionale Ausschlüsse im Gewebe von Ökonomisierung, „Rasse“ und Geschlecht. Empirische Perspektiven aus der Altenpfl ege in Dresden, S. 501

Wulf D. Hund:
„Rasse“. Kommentar zur Hypertrophie eines vielschichtigen Begriff s, S. 520

PERIPHERIE-Stichwort
Anil Shah:
Racial Capitalism, S. 532

REZENSIONEN,
Susan Khoshy, Lisa Marie Cacho, Jodi A. Byrd & Brian Jordan Jeff erson (Hg.): Colonial Racial Capitalism (Reinhart Kößler), S. 536
Cathi Albertyn, Meghan Campbell, Helena Garcia Alviar, Sandra Fredman & Martha Rodriguez de Assis Machado (Hg.): Feminist Frontiers in Climate Justice. Gender Equality, Climate Change and Rights (Rita Schäfer), S. 538
Ulrich Brand & Markus Wissen: Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven (Joachim Hirsch), S. 541
Alex Veit & Daniel Fuchs (Hg.): Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung? Die „New International Economic Order“ und die Zukunft der Nord-Süd-Beziehungen (Rita Schäfer), S. 543
Gargi Bhattacharyya, Adam Elliott-Cooper, Sita Balani, Kerem Nisancioglu, Kojo Koram, Dalia Gebrial, Nadine El-Enany & Luke de Noronha: Empire’s Endgame. Racism and the British State (Eleonora Roldán Mendívil), S. 545
Olumide Femi Makanjuola & Jude Dibia (Hg.): Love Off ers No Safety. Nigeria’s Queer Men Speak (Rita Schäfer), S. 549
Eingegangene Bücher, S. 551
Summaries, S. 552
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 554
Jahresregister, S. 555




Zu diesem Heft

Auseinandersetzungen um das historische und theoretische Verhältnis von Rassismus und Kapitalismus sind nicht neu. In der PERIPHERIE wird dieser Themenkomplex immer wieder behandelt. Zuletzt unterstrich Gerhard Hauck in der Ausgabe 146/147: „Wer vom Rassismus redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen“. Im selben Heft kritisieren Daniel Bendix und Aram Ziai, dass sich die rassismuskritische Forschung im deutschsprachigen Raum meist nur auf die symbolischen und diskursiven Formen rassistischer Diskriminierung konzentriere, während eine Analyse von politökonomischen Ungleichheiten und ökonomischen Interessen wenig präsent seien. Dieser Umstand scheint sich in den letzten Jahren langsam zu verändern. Unter dem Schlagwort „racial capitalism“ finden seit geraumer Zeit intensive Auseinandersetzungen sowohl über historische Verflechtungen von Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus als auch über gegenwärtige Ausprägungen rassistischer Ausgrenzung, Aneignung und Ausbeutung in der Weltwirtschaft statt.
Die häufige Verwendung des Begriffs „racial capitalism“ geht jedoch mit unklaren bis widersprüchlichen Argumentationen einher, die unter anderem folgende Problemstellungen umfassen: Ist die Verschränkung von Rassismus und Kapitalismus kontingent oder notwendig? Wie werden Rassismus und Kapitalismus jeweils definiert und historisch eingeordnet? Wie unterscheidet sich das Verhältnis von Rassismus und Kapitalismus in unterschiedlichen Weltregionen und Zeiträumen? Und wie lässt sich der Herrschaftszusammenhang von Rassismus und Kapitalismus überwinden? Diese Fragen sind freilich nicht neu und schließen an intensive Debatten der 1980er Jahre sowie frühere Auseinandersetzungen innerhalb von und zwischen antikolonialen Bewegungen an. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass klassische Werke der sogenannten „schwarzen radikalen Tradition“ (W.E.B. Du Bois, Eric Williams, C.L.R. James, Claudia Jones, Frantz Fanon, Walter Rodney, Angela Davis u.a.) neu gelesen und interpretiert werden, um gegenwärtige Verhältnisse zu verstehen, zu kritisieren und zu überwinden. Diese Autor:innen haben ausgehend von marxistischen Kategorien und als Kritik an einem eurozentrischen Marxismus die Relevanz von Rassismus und (Post-)Kolonialismus für kapitalistische Gesellschaften herausgearbeitet.
Die erneute Konjunktur deser Debatte zeigt sich in der wachsenden Zahl wissenschaftlicher Konferenzen, Workshops und Publikationen, die sich mit „racial capitalism“ auseinandersetzen. Diese Debatten haben sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert und wichtige neue Forschungsfelder erschlossen. So gibt es inzwischen eine wachsende Literatur, die aus dieser Perspektive globale Finanzstrukturen, Geschlechterverhältnisse, Entwicklungspolitiken, koloniale Aspekte des Klimawandels sowie heterogene Arbeitsverhältnisse in der Weltwirtschaft untersuchen. Diese Beiträge beziehen Theorien, Methoden und Erkenntnisse aus ganz unterschiedlichen Disziplinen ein und verdeutlichen die Vielschichtigkeit der Verflechtung von Kapitalismus und Rassismus. Dabei fällt auf, dass ein Großteil der Diskussionen in englischsprachigen Zeitschriften geführt wird, während die deutschsprachige Wissenschaft diese Debatte bisher nur partiell rezipiert hat.
Ein Beitrag, um diese Lücke in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskussion zu schließen, stellt die Konferenz „Racial Capitalism: Marxism meets Postcolonial Studies“ dar, die im Oktober 2023 an der Universität Kassel stattfand. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden einige der in diesem Heft vorgestellten Thesen präsentiert und diskutiert. Ziel der Konferenz war es, postkoloniale und marxistische Ansätze miteinander zu verbinden, um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Rassismus und Kapitalismus zu analysieren. Im Mittelpunkt stand dabei insbesondere die kritische Betrachtung der historischen und strukturellen Verflechtungen von Kapitalakkumulation und rassistischer Diskriminierung sowie deren Manifestationen in aktuellen globalen Machtverhältnissen. Die Konferenz diente zudem als Plattform für transdisziplinären Austausch und beleuchtete zentrale Themen wie die Kolonialität moderner Wirtschaftsstrukturen, die Funktion von Rassismus als Herrschaftsinstrument im Kapitalismus und die Möglichkeiten, einer theoretischen und politischen Synthese zwischen postkolonialen und marxistischen Perspektiven. Dabei wurde deutlich, dass die Verknüpfung dieser beiden Denkschulen nicht nur neue theoretische Einsichten eröffnen, sondern auch praktische Impulse für soziale Bewegungen und politische Strategien liefern kann.
Die Frage, ob die wissenschaftliche Debatte um racial capitalism einen adäquaten Raum bietet, um die in der marxistischen und postkolonialen Theorietradition verankerten Ansätze effektiv zu vereinen, wurde kontrovers diskutiert. Diese Kontroversen gaben Anlass zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit sowie deren theoretischen und methodologischen Implikationen, die dieses Schwerpunktheft aufgreift und weiterführt. In diesem Sinne hoffen wir, dass die folgenden Beiträge zu weiteren Diskussionen anregen.
Wissenschaftliche Debatten sind von Konjunkturen geprägt, in denen sich bestimmte Begriffe als gemeinsame Referenz herausbilden. Oft wirken diese wie ein diskursives Gravitationszentrum. Doch der häufige Bezug auf Modewörter wie racial capitalism bedeutet noch lange nicht, dass es ein gemeinsames Verständnis der zugrundliegenden Phänomene gibt. Anil Shah beleuchtet im Stichwort, wie vielschichtig und widersprüchlich der gegenwärtige Debattenzyklus verläuft und wie dies mit der Geschichte der Popularisierung des Begriffs zusammenhängt. Dabei betont er, dass Diskussionen zum Verhältnis von Rassismus, (Post-)Kolonialismus und Kapitalismus das Potenzial haben, bestehende Gewissheiten in der kritischen Gesellschaftsforschung auf den Prüfstand zu stellen, wenn Debattenbeiträge aufzeigen, wie rassistische und kapitalistische Verhältnisse verwoben sind.
Der südafrikanische Apartheidstaat wird häufig als Paradebeispiel für einen „rassischen Kapitalismus“ angeführt. Dort entwickelte sich bereits seit Ende der 1970er Jahren eine intensive wissenschaftliche und aktivistische Auseinandersetzung zum Zusammenspiel von Rassen- und Klassenherrschaft, deren Verquickung in staatliche Institutionen eingeschrieben war. Vor diesem Hintergrund fragt Roger Southall, inwiefern sich der rassistische Charakter der südafrikanischen Ökonomie dreißig Jahre nach dem Ende der Apartheid durch die politische Führung des Afrikanischen Nationalkongress geändert hat. Er kommt zu dem Schluss, dass rassistische Klassenhierarchien weiterhin die Sozialstruktur prägen, und südafrikanische Kapitalinteressen noch immer von einer weißen Minderheit dominiert werden. Allerdings habe sich der formale Charakter des Staates sowie die Repräsentanz schwarzer Südafrikaner:innen und ihrer Interessen in den vergangenen drei Jahrzehnten zumindest teilweise in staatlichen Institutionen und Programmen niedergeschlagen. Deshalb müsse das Konzept von racial capitalism sowohl historischen Kontinuitäten als auch Brüche erklären können, um für gegenwärtige Analysen brauchbar zu sein.
Kolja Lindner diskutiert das konfliktive Verhältnis zwischen Historischem Materialismus und Postkolonialen Studien. Dabei rekonstruiert er vor allem die postkoloniale Kritik an einem schematischen und teleologischen Modell kapitalistischer Entwicklung, das sowohl im Marx’schen Werk angelegt ist als auch von prominenten Marxisten des 20. Jahrhunderts popularisiert wurde. Trotz dieser problematischen Aspekte, argumentiert Lindner, habe sich Karl Marx ab den 1850er Jahren zunehmend von früheren Annahmen zum transhistorischen Wachstum der Produktivkräfte distanziert. Gerade in seinen historisch-sozialwissenschaftlichen Arbeiten zeige er ein differenzierteres Verständnis kapitalistischer Formationen, das von postkolonialen Kritiker:innen zu Unrecht als überkommen dargestellt werde. Auch wenn die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie bis heute wichtige Erkenntnisse zu Dynamiken des globalen Kapitalismus liefere, so müssten rein ökonomische Analysen um nicht-ökonomischen Möglichkeitsbedingungen erweitert werden, um beispielsweise die Relevanz von Rassismus im Kapitalismus zu verstehen.
Cedric J. Robinsons erstmals 1983 erschienenes Werk Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition wird seit einigen Jahren als zentrale Referenz in Debatten zu racial capitalism herangezogen. Eleonora Roldán Mendívil unternimmt eine kritische Würdigung dieses Buches und dessen Rezeption. Dabei kritisiert sie an Robinson vor allem seine Behauptung, der Marxismus sei per se eurozentrisch, und seine essenzialisierende Vorstellung einer transhistorischen „schwarzen radikalen Tradition“. Demgegenüber betont sie die Diversität anti-rassistischer und anti-imperialistischer sozialer Kräfte, in denen Marxismus historisch eine zentrale Rolle gespielt habe. Für gegenwärtige Analysen schlägt sie vor, Rassismus als historisch und geografisch spezifisches Vermittlungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu verstehen. Insbesondere die Konzepte der „Überausbeutung“ und der „sozialen Reproduktion“ seien geeignet, um die Analyse rassistischer segregierter Arbeit und Ausbeutung zu begreifen.
Stanislav Serhiienko untersucht in seinem Beitrag einen frühen Versuch des ungarischen Kommunisten Endre Sík ab den späten 1920er Jahren einen „konstruktivistischen“ Begriff der Rasse auf marxistischer Grundlage zu formulieren. In seinem lediglich auf Russisch vorliegenden Werk „Rassenproblem und Marxismus“ argumentierte Sík gegen das Verständnis von Rassismus als eines ahistorischen Vorurteils gegenüber Fremden und hob hervor, dass die moderne Rassenideologie eng mit der Etablierung einer Zivilisationsvorstellung sowie der ihr zugrunde liegenden kolonialen und imperialen Herrschaft verbunden war. Rassen entstanden demzufolge als künstliche Produkte sozialer Verhältnisse, nicht auf Grundlage irgendwelcher anthropologischen Unterschiede. Damit vertrat Sík jedoch eine Minderheitenposition unter den sowjetischen Anthropologen und widersprach der offiziellen Position der Kommunistischen Internationale (Komintern), weshalb seine Arbeiten keinen langfristigen Einfluss auf die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen hatten.
Wulf D. Hund kritisiert in seinem Kommentar gegenwärtige Tendenzen der rassismuskritischen Forschung und Praxis, den Ausdruck „Rasse“ als analytisches Konzept zu nutzen. Dieser Trend verkenne die komplexe und widersprüchliche Entwicklung des modernen Rassedenkens, das durch eine Mischung von natürlichen und sozialen Merkmalen gekennzeichnet gewesen sei. Dabei betont Hund vor allem, der Begriff sei stets fragil und wandelbar gewesen und habe in unterschiedlichen Kontexten immer wieder neue Bedeutung angenommen. Der Versuch, „Rasse“ zur eigenen Identitätsbildung und zum Widerstand gegen rassistische Unterdrückung zu nutzen, müsse demzufolge scheitern, weil dem Ausdruck historisch wie logisch ein entmenschlichendes Moment zugrunde liege. Außerdem verkenne die Nutzung von „Rasse“ als analytischer, sozialer Kategorie die klassengesellschaftlichen Grundlagen des Rassismus.
Dass sich die Verschränkung von Rassismus und Kapitalismus in unterschiedlichen historischen und geografischen Kontexten auf spezifische Weise äußert, ist eine weitverbreitete Annahme. Vor diesem Hintergrund untersucht Monique Ritter, wie intersektionale Ausschlüsse und Ökonomi-sierungszwänge in der Altenpflege in Deutschland im Kontext des akuten Fachkräftemangels wirken. Auf Basis von Interviews mit migrantischen Pflegekräften und Leitungen von ambulanten Pflegeeinrichtungen zeigt sie auf, wie vergeschlechtlichte und rassistische Differenzlinien bestimmte Ausschlüsse und Unterschichtungen am Arbeitsmarkt produzieren. Dabei könne rassistische Diskriminierung durchaus der kapitalistischen Verwertungslogik dienen, dies sei aber nicht zwangsläufig der Fall. Vielmehr betont Ritter die relative Autonomie von Rassismus gegenüber kapitalistischen Verwertungslogiken. Dies erfordere eine fallspezifische Analyse der jeweiligen Konstellationen.

Mit diesem Heft beenden wir den 44. Jahrgang unserer Zeitschrift. Den 45. werden wir mit einer Ausgabe über „Gelebte Utopien“ eröffnen. Ferner planen wir Schwerpunktehefte über „Digitalisierung“, „Wald“ und „Autoritarismus“. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Sobald sie veröffentlicht werden, finden sich die entsprechenden Calls for Papers auf unserer Homepage sowie auf der Homepage unseres Verlags unter https://www.budrich-journals.de/index.php/peripherie.
In eigener Sache danken wir allen Leser:innen, Abonnent:innen sowie den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., der Herausgeberin der PERIPHERIE. Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist weiterhin von Spenden abhängig. Eine für die langfristige Sicherung des Projekts besonders willkommene Förderung stellt die Mitgliedschaft im Verein dar, in der das Abonnement der Zeitschrift, die Möglichkeit eines kostenfreien online-Zugangs zu allen Ausgaben seit dem 22. Jahrgang (2002) sowie regelmäßige Informationen über die Redaktionsarbeit enthalten sind. Wir freuen uns aber auch über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum.
Zu guter Letzt wünschen wir Ihnen und Euch eine aufschlussreiche und inspirierende Lektüre und ein gutes Jahr 2025.