Aktuelle Ausgabe



Nr. 108 Raum - Ethnizität - Politik


Inhalt:

Editorial, S. 371

Conrad Schetter & Markus Weissert
Die Macht des Raumes. Wahrnehmung, Legitimation und Gewalt zwischen ethnoscape und nationalem Territorium, S. 376

Reinhart Kößler
Streben nach Heimat und Freiheit. Zur Territorialisierung von Ethnizität in Süd- und Zentralnamibia, S. 393


Ceren Türkmen
Ethnizität und Distinktion in der "hybriden" Kulturindustrie. Eine hegemonietheoretische Annäherung, S. 411

Dörte Rompel
Die Politisierung von Ethnizität und der Kampf um Staatsbürgerschaft und Partizipation in der Côte d'Ivoire, S. 431

Olaf Kaltmeier
PERIPHERIE-Stichwort: Politische Räume, S. 453

Diskussion
Pablo Ospina Peralta
Der Plurinationale Staat und territoriale Selbstverwaltung, S. 456

Wolfram Schaffar
Risiken und Nebenwirkungen einer Farbrevolution in Birma, S. 469


Theo Rauch
Nicht der Kapitalismus allein macht arm Replik zu den Anmerkungen von Gerhard Hauck, S. 478

Rezensionen, S. 482
Summaries, S. 517
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 519
Impressum, S. 528




Editorial

Raum - Ethnizität - Politik

Emanzipation braucht Raum und Zeit, eine banale Einsicht. Denn Entfaltung benötigt ihren Raum, herrschaftsfreier Dialog seine Zeit, und Freiheit ist nicht vorstellbar ohne den dazu gehörenden Freiraum, von freier Zeit ganz zu schweigen. Dabei muss "Raum" nicht nur eine sprachliche Metapher sein, sondern beschreibt als Begriff etwas von ganz konkreter und materieller Bedeutung: Der um G8-Treffen gezogene Zaun, Militärboote, die auf dem Mittelmeer die Festung Europa gegen Flüchtlinge abschirmen, Mauern, die quer durch Städte gehen, Zugangsbeschränkungen und Einlasskontrollen, Eintrittspreise, Bodenrente, Wohnungsmiete und Grundstückspreise - all diese Vorkehrungen und Institutionen regulieren, wer in welchen Raum darf, wer draußen oder drinnen bleiben muss, wer wie viel und welchen Raum zur Verfügung hat. Begrenzungen entscheiden täglich über Schicksale. Besonders militärisch oder polizeilich bewehrte (Staats-)Grenzen sind immer wieder Anlass, Menschen zu töten.

Grenzen wirken in beide Richtungen, nach innen und nach außen. Für die, die innen stehen, kann eine Grenze als Garant von Sicherheit verstanden werden, als Vergewisserung ihrer selbst bzw. des Raumes innerhalb der Grenze. Eine Grenze markiert und definiert; sie bestimmt, wo etwas anfängt und wo etwas aufhört. Sie definiert Zugehörigkeit ebenso wie Zuständigkeit, sie exkludiert ebenso, wie sie Überschaubarkeit ermöglicht. Im Konfliktfall kann eine klar benannte Grenze pazifizierend wirken, indem sie auf ihren beiden Seiten eine Verbindlichkeit der Raumaufteilung garantiert. Grenzen sind schließlich auch etwas, was überschritten und geöffnet, ja abgeschafft werden kann. Eine Beratungsfirma brachte es einmal - in sehr unverfrorener, ja zynischer Weise - auf die Formel, "Freiräume sind Marktlücken". Etwas, was noch nicht eingegrenzt, eingehegt und inwertgesetzt ist, ist aber nicht nur Chance für die kapitalistische Unternehmerin, sondern kann eben auch ein Freiraum sein, in dem Neues geschehen kann, in dem manche Regeln nicht gelten, in dem Alternativen möglich sind. Die Suche nach neuen Freiräumen ist eines der Anliegen der Peripherie. Bereits 1984 in der Ausgabe 18/19 "Kulturelle Identität und Nationalstaat" hat diese Zeitschrift die Begriffe Ethnizität und Nationalismus auch in Hinblick auf mögliche Emanzipationsräume diskutiert und zu der damals noch ganz frischen Debatte um die sozialkonstruktivistische Kritik an essentialistischen Vorstellungen von Nation und Ethnie beigetragen. Seitdem haben sich verschiedene Hefte mit dem Thema befasst. Die erste Frage bei der Planung des vorliegenden Heftes war prompt: Warum schon wieder Ethnizität?

Diese Ausgabe erweitert das Blickfeld der früheren Hefte zu Ethnizität durch die konsequente Ausrichtung auf den (politischen) Raum. Wie ist der Raum zu fassen, in dem Grenzen gesetzt werden, Identitäten und Alteritäten ausgehandelt und ausgefochten werden, in dem Politik möglich oder unmöglich ist, in dem sich Macht und Herrschaft verorten? Die drei Felder Raum, Ethnizität, Politik sind auch und gerade im Nationalstaat aufs Engste aufeinander verwiesen. Dieser Zusammenhang ist sehr brüchig und alles andere als eindeutig. Dabei galt gerade der Raum als traditionell, wandlungsresistent, eben als gut im Boden verwurzelt. So wurde das Raum-Konzept in den Sozialwissenschaften selber kaum problematisiert, wenn auch Friedrich Engels schon vor mehr als 100 Jahren einsah, dass es so etwas wie "natürliche Grenzen" nicht geben könne, weil sie immer gesellschaftliche Setzungen seien. Aktuell dagegen werden im Kontext der Transnationalisierungsprozesse neue Raum-Konzepte eingeführt: Es wird von einer Ent-Ortung und Ent-Grenzung des Raumes gesprochen, der Raum wird zum "glatten Raum" (Deleuze/Guatteri) eines Empire (Hardt, Negri), zum "Raum der Ströme" der Netzwerkgesellschaft (Castells) oder zur raumlosen, nur noch funktional differenzierten Weltgesellschaft (Luhmann). Als raumbezogene Effekte sind in diesem Zusammenhang insbesondere der politische Steuerungsverlust der Nationalstaaten, das Aufkommen eines Netzes von global cities (Sassen), das cybernet sowie transnationale Migrationsräume und die Verschiebung von klar vorgestellten Grenzen zu hybriden borderlands zu nennen.

Eines der wirksamsten identitätspolitischen und damit Raum und Räume im 19. und 20. Jahrhundert definierenden Konzepte war und bleibt das der Nation. Es gehorcht einer räumlichen Logik der Kerbung in nationale Behälter (Staatsterritorium), in die sich nationale Identitäten (Staatsvolk) einfügen, welche als weitgehend homogen vorgestellt werden oder deren Homogenität angestrebt wird. Dies geschieht in zuweilen widersprüchlicher Weise, beginnend mit der Frage, ob der nationalistisch über die imaginierte Nation gefasste Nationalstaat Ethnizitäten in universalistischer Weise überwindet oder ob Nationalismus selbst immer auf mindestens einen Rest an partikularer Ethnizität angewiesen ist. Vieles spricht dafür, dass der Dualismus, in dem sich Ethnizität und Nationalismus gegenseitig ausschließen und einander diametral gegenüber stehen, endgültig hinfällig ist. Diese beiden Kategorien sind auch in der heute vollständig nationalstaatlich repräsentierten Weltordnung nicht voneinander zu trennen. Sie sind miteinander über den Raum vermittelt, der identitätspolitisch gefasst, geformt, beansprucht, umkämpft, definiert, begrenzt wird.

Auch unterhalb der Ebene der Nationalstaaten ist viel in Bewegung. Im Zuge einer massiven weltweiten Tendenz zur ethnischen Kodierung des Politischen in den 1990er Jahren haben vor allem ethnische Bewegungen Widerstand gegen staatlich gelenkte Assimilationspolitiken geleistet oder multiethnische Nationskonzepte aufgesprengt. Der ethnonationalistisch motivierten staatlichen Aufsplitterung vor allem in Südosteuropa steht in vielen Staaten des globalen Südens die Anerkennung von Pluriethnizität gegenüber: So wurden zahlreichen Gruppen territoriale Sonder- und Autonomierechte eingeräumt. Bemerkenswert ist, dass ethnische Bewegungen ihrerseits strategisch-essentialistische (Spivak) oder strategisch-konstruktivistische Ethnizitäts- und Raum-Konzepte anführen. Räumliche und identitäre Zuschreibungen verlieren an Eindeutigkeit und in Auseinandersetzung mit hegemonialen Konzepten bilden sich third spaces (Bhabha) aus, die durch Hybridität gekennzeichnet sind.

Die Beiträge in diesem Heft schlagen aus ganz unterschiedlicher Richtung Schneisen in die Debatte. Conrad Schetter und Markus Weissert verwenden den Begriff ethnoscape, um den Zusammenhang zwischen ethnischer Demarkation und räumlicher Repräsentation zu verdeutlichen. Der exklusive Anspruch von Nationalstaaten auf Territorien qua ihnen zugrunde liegender ethnoscapes führt, so die Autoren, zwangsläufig dazu, dass sich immer neue Konflikte um Territorium anhand immer neuer Ethnisierungen ergeben. Denn in der nationalistischen Ideologie lassen sich ironischerweise nur über den ethnischen Bezug, über die Postulierung eines ethnoscapes, unabdingbare Ansprüche auf Räume erheben. Diesem paradoxen Zusammenhang auf der Spur ist auch Reinhart Kößler, der die Bedeutung von Räumen und örtlichen Fixpunkten für die Konstitution von Heimat und Zugehörigkeit in Namibia analysiert. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung essentialistisch definierter Gemeinschaften und fixer Orte in Denken, Sprache, aber auch in der Gesetzgebung Namibias zeigt sich das Vorhaben als schwierig, unterschiedlichen Gruppen gleiche Rechte, Landansprüche und teilweise Autonomie zuzuerkennen. Denn die staatliche Administration basiert auf lokalen Festlegungen und klaren Grenzziehungen. Die Frage, wie im modernen Staat der räumlichen Einhegung zu entkommen sei, ist nicht nur in Namibia von Brisanz. Ceren Türkmen untersucht deutschtürkische Film- und andere Kulturproduktionen, die einerseits über die Umdeutung rassistischer und beleidigender Ausdrücke wie "Kanak" die These belegen, dass Wiederholungen Bedeutungen verschieben und emanzipativ nutzbar machen. Andererseits bedient die Kulturindustrie sich weiterhin essentialistischer Zuschreibungen, auch wenn diese sich häufig verändert haben. In der Bewegung zwischen als Containern imaginierten Kulturräumen entstehen Freiräume, third spaces; diese sind und bleiben aber nicht gegeben, sondern müssen beständig neu erzeugt werden. Auch Dörte Rompel deckt in ihrer kenntnisreichen Darstellung der politischen Entwicklung in der Elfenbeinküste während der letzten 10-15 Jahren Freiräume auf. Seit der Einführung der Ivoritäts-Klausel 1995 wurde durch diese streng selektive (Neu-)Definition der legitimen Mitgliedschaft in der ivorischen Nation aus Machtkalkül ein ethnischer Konflikt forciert, der selbst eine vorher panafrikanisch- sozialistisch ausgerichtete Jugendorganisation erfasste. Nationalismus war gerade die Ursache eines ethnischen Konfliktes. Im Schatten und infolge dieses Konflikts öffnete sich andererseits ein neuer Freiraum, eine Widerstandsidentität, die sich am Ethnonym Dioula kristallisiert. In seinem Diskussionsbeitrag zu den Forderungen indigener Gemeinschaften nach einem "plurinationalem" Staat in Ecuador analysiert Pablo Ospina Peralta die Möglichkeiten emanzipativer und kommunitärer Strukturen in Hinblick auf Staat und Territorium. Auch ohne Dekonstruktion der Begriffe zeigt sich, dass es gute Gründe gibt, Alternativen zu suchen, statt (national oder ethnisch gemalte) Eindeutigkeiten zwischen Gruppen zu schaffen, nur um sie dann plurinational zu überwinden.

Das seit diesem Jahrgang neu eingeführte Peripherie-Stichwort zur komprimierten Darstellung entwicklungstheoretischer Debatten und Zusammenhänge behandelt in diesem Heft das Stichwort "Politische Räume". Olaf Kaltmeier gibt einen Überblick über zentrale Linien der Diskussion und referiert die für das Thema Raum seit dem sogenannten spatial turn in den Sozialwissenschaften wesentlichen Begriffe.

Als die Militärregierung in Birma (Myanmar) Ende September dieses Jahres die von buddhistischen Mönchen angeführte Revolte gewaltsam niederschlug, wurden der hiesigen Öffentlichkeit die wesentlichen Zusammenhänge als klar und eindeutig dargestellt. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht Wolfram Schaffar. Sein Diskussionsbeitrag zeigt unter anderem, dass entgegen dem hierzulande verbreiteten Eindruck keine Rede von einem spontanen Aufstand sein kann und dass der Aufstand auch nicht vom Ausland inszeniert wurde, wie die birmanische Militärregierung behauptet.

Eine in der Peripherie 107 "Millenniumsziele -- Entwicklung von Armut" begonnene Debatte setzen wir in diesem Heft fort. Gerhard Hauck warf Theo Rauch vor, er übernehme in seiner Analyse von Ursachen der Armut und Ansätzen zu ihrer Überwindung Begriffe des entwicklungspolitischen Mainstreams. Die aus diesen Begriffen gebildeten Scheuklappen verstellten den Blick darauf, dass die kapitalistische Akkumulation zwangsläufig Ungleichheit und Armut erzeuge. Nunmehr antwortet Theo Rauch, er berücksichtige anders als der Mainstream gerade interne wie externe Faktoren gleichermaßen; er fragt, ob nicht Hauck seinerseits die internen Faktoren ausblende. Nur in der Gesamtschau ließen sich Perspektiven zur Überwindung der Armut erkennen.

Die vorliegende Ausgabe ist in Zusammenarbeit mit dem Teilprojekt B 13 "Ethnisierung und De-Ethnisierung des Politischen. Aushandlungen um Inklusion und Exklusion im andinen und südasiatischen Raum" des Bielefelder SFBs "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" entstanden. Sie schließt den 27. Jahrgang ab und enthält das Jahresregister. Den 28. Jahrgang eröffnet die Doppelausgabe 109/110 "Vom Erinnern und Vergessen". Die Veränderungen in den Kräfteverhältnissen der Weltwirtschaft hat die für Mitte August 2008 geplante Einzelausgabe zum Gegenstand. Als dritte Ausgabe 2008 planen wir ein Heft zum Thema "Okkupationen". Zu diesen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Die Calls for Papers finden sich wie immer auf unserer Homepage.

Zum Ende des 27. Jahrgangs bedanken wir uns herzlich bei allen Gutachterinnen und Gutachtern, ohne deren gründliche, engagierte und kritische Arbeit, oft unter enormen Zeitdruck, die Arbeit der Peripherie nicht möglich wäre. Ihre Namen sind in alphabetischer Reihenfolge im Jahresregister aufgelistet. Schließlich bedanken wir uns auch bei allen Leserinnen und Lesern, Abonnentinnen und Abonnenten und Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., die die Peripherie herausgibt. Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist von Spenden abhängig. Besonders freuen wir uns über neue Abonnentinnen und Abonnenten. Wir wünschen Euch und Ihnen anregende Lektüre und einen guten Start ins neue Jahr 2008!

Zu guter letzt noch ein Hinweis in eigener Sache: Die Peripherie ist umgezogen. Die neue Post-Adresse lautet seit September 2007:

Peripherie
c/o Michael Korbmacher
Stephanweg 24
48155 Münster

Tel.: +49-(0)251-38349643
Fax: +49-(0)251-3834463 (Bitte mit Notiz: "Für Peripherie")

info[at]zeitschrift-peripherie.de
http://www.zeitschrift-peripherie.de